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1. Einleitung - Meine Begegnung mit der klassischen vergleichenden Verhaltensforschung
Wer das Kapitel "Zoo" bereits gelesen hat, könnte den Eindruck haben, dass mein Interesse am Verhalten von Tieren allein durch die beiden "Tierpsychologen" Heini Hediger und Monika Meyer-Holzapfel gefördert worden ist. Das stimmt jedoch nur zum Teil. Da gab es nämlich noch jemanden, der, gemäss dem Titel eines seiner Bücher, "mit dem Vieh, den Vögeln und den Fischen redete" und der in einem weiteren Buch seine Ansichten darüber darlegte, wie "der Mensch auf den Hund kam". Wobei das letztgenannte Buch, mit seinem reichen Schatz an Anekdoten, Beobachtungen und Hypothesen, wohl sehr früh den Grundstein für mein Interesse am Hund, seiner Domestikation und seinem Verhalten legte. Beim Autor handelt es sich - natürlich um Konrad Lorenz, einem der Gründerväter der klassischen vergleichenden Verhaltensforschung und Mitbegründer der Biologie des Verhaltens. Im Jahre 1973 wurde ihm zusammen mit Karl von Frisch und Nikolaas Tinbergen der Nobelpreis für Physiologie oder Medizin "für Entdeckungen zur Organisation und Auslösung von individuellen und sozialen Verhaltensmustern" verliehen. Mehr als 20 Jahre vorher, nämlich bereits 1950, hatte die deutsche Max-Planck-Gesellschaft in Buldern/Westfalen eigens für Konrad Lorenz eine "Forschungsstelle für vergleichende Verhaltensforschung" eingerichtet. Und 1955 wurde mit dem Bau des Max-Planck-Instituts für Verhaltensphysiologie am Esssee in Oberbayern begonnen, dem Konrad Lorenz von 1961 bis 1973 als Direktor vorstand. Später erhielt die Örtlichkeit und das Institut die Bezeichnung "Seewiesen".
Kurz nachdem Konrad Lorenz als Direktor von Seewiesen zurückgetreten war, stattete ich, zusammen mit Prof. Tschanz, meinem Doktorvater, einer Studienkollegin und meiner Lebensgefährtin, Rosemarie, Seewiesen einen Besuch ab. Es war eindrücklich, an einem Ort zu stehen, der vielleicht als "Wiege der vergleichenden Verhaltensforschung" bezeichnet werden kann, Konrad Lorenz' Graugänsen zu begegnen (an denen übrigens weiter geforscht wurde und wird) und das riesengrosse Aquarium zu sehen, das Konrad Lorenz mit seinem Anteil am Nobelpreis konstruiert haben soll und in dem sich traumhaft schöne Korallenfische tummelten. Konrad Lorenz selbst begegneten wir damals nicht, aber ich hatte später einige Male Gelegenheit mit ihm in kleinerem Kreise bei seinen Besuchen in Bern zu diskutieren, war doch sein Schwiegersohn, Mario von Cranach, Professor am Psychologischen Institut der Universität Bern.
Das Gedankengut und die theoretische Grundkonzepte der "Gründerväter der klassischen vergleichenden Verhaltensforschung", also von Konrad Lorenz, Nikolaas Tinbergen und Karl von Frisch, aber auch von Irenäus Eibl-Eibesfeld, Wolfgang Wickler, Paul Leyhausen, Klaus Immelmann und anderen, bestimmten das, was ich mir zu Beginn des Studiums der Ethologie als Wissensgut aneignete. "Instinkt" und "Erbkoordination" waren ebenso geläufige Begriffe, wie "Appetenz-" und "Endhandlung", "Angeborener Auslösender Mechanismus", "Schlüsselreiz" und "Auslöser", "angeboren" und das "psychohydraulische Instinktmodell", die "Übersprungsbewegung" und die "Leerlaufhandlung". In meinem Kopf nistete sich die Vorstellung von einem Grundstock "angeborener", "instinktiver" "sich phylogenetisch (also durch die natürliche Selektion) entwickelter", auf "Erbkoordinationen" beruhender, und durch Auslöser und Schlüsselreize in Gang gesetzter, "arttypischer Verhaltensmuster" ein, die gegebenenfalls - wie eine Torte - durch einen Überzug von auf Erfahrung beruhenden (erworbenen bzw. erlernten) Elementen etwas modifiziert werden konnten. Es ist bezeichnend, aber auch bedenklich, dass für viele Zeitgenossen, insbesondere auch solchen, die praktischen Umgang mit Tieren (z.B. Hunden) pflegen, dies auch heute immer noch der Vorstellung entspricht, wie Tiere "funktionieren" und damit fast vierzig Jahre der Entwicklung und der Wissenserweiterung auf dem Gebiet der Verhaltensbiologie, spurlos an ihnen vorübergegangen sind.
2. Meine Begegnung mit der naturwissenschaftlich orientierten Lernpsychologie
Als Student, der sich an der Universität Bern in seinem Hauptfach mit Ethologie und in seinem Nebenfach mit Humanpsychologie beschäftigt hatte, wollte ich natürlich auch auf diesem Gebiet von meinem Studienaustauschjahr am Colorado College profitieren und schrieb mich, ohne zu ahnen, was mich erwartete, u. a. für den Kurs "Einführung in die Psychologie" ein. Einzig erstaunte mich, dass, anders als in Bern, wo wir im Hörsaal stundenlang den Vorlesungen unseres Professors zugehört hatten, im Rahmen dieses Kurses mehrere Stunden pro Wochen für ein Praktikum vorgesehen waren. Ich werde nie in meinem Leben dieses erste Praktikum vergessen: Wir wurden in Zweiergruppen aufgeteilt und jede Zweiergruppe erhielt eine weisse Ratte und eine sogenannte "Skinnerbox", ein in der College Werkstatt aus einer handelsüblichen Kühlbox hergestellter, mit einer durchsichtigen Plexiglasscheibe abschliessbarer, kleiner Behälter in dem ein Lämpchen, eine kleine Taste und eine Vorrichtung zur Verabreichung einer kleinen Portion Wasser angebracht waren.
Wir erhielten folgende Aufgabe: Die Ratte sollte in diesen Behälter verbracht werden und danach sollte ihr etwa 10 Minuten Zeit gegeben werden, die ungewohnte Umgebung zu erkunden und sich damit vertraut zu machen. Danach sollten wir das Verhalten der Ratte beeinflussen bzw. "formen", indem wir uns ein Verhaltensziel setzten, das nach Ablauf dieses "Formungsprozesses" erreicht werden sollte. Solche Ziele konnten beispielsweise sein: "Taste mit der rechten Vorderpfote drücken", "Taste mit der linken Vorderpfote drücken", "An der Wand hochstehen und Taste mit der linken (oder rechten) Hinterpfote drücken", "In eine Ecke des Behälters gehen und dort ruhig sitzen" usw. Wir hatten eine einzige Möglichkeit auf diesen "Formungsprozess" Einfluss zu nehmen, nämlich, indem wir von Anfang an jeden kleinsten Fortschritt in Richtung des Verhaltensziels über einen Knopfdruck mit einer automatisch ausgelösten Wassergabe "bekräftigten" und sonst hatte wir möglichst lautlos da zu sitzen. Es war geradezu unheimlich zu sehen, dass die Ratten unmittelbar auf unser Einwirken ansprachen, beispielsweise ihre Aktivitäten auf die Umgebung der Taste und dann auf die Taste selbst konzentrierten, etwas später daran gingen, die Taste mit der Schnauze oder den Pfoten zu bearbeiten und nachdem nur noch das letztere "bekräftigt" wurde, allmählich lernten, die Taste, und zwar mit der von uns bestimmten Pfote, niederzudrücken. Damit lösten sie selbst die Wassergabe aus und wir konnten unsere Knopfdrucke beenden. Nach 20 bis 30 Minuten konnte man, wenn man im Praktikumsraum von Zweiergruppe zu Zweiergruppe ging und die einzelnen Ratten beobachtete, Tiere sehen, die eifrig mit der linken oder der rechten Vorderpfote die Taste drückten, an der Wand hochsprangen und die Taste mit einer Hinterpfote betätigten oder in einer Ecke sassen und eifrig und fortwährend mit den Pfoten "putzend" über den Kopf fuhren, einzig hie und da unterbrechend, um aus der Vorrichtung einen Tropfen Wasser aufzunehmen. Diese unerhörte Flexibilität des Verhaltens, diese unglaublichen Verhaltensänderungen in kurzer Zeit aufgrund unscheinbarer, kontrollierter Einwirkungen über eine leblose Apparatur (= Umgebung), war für mich als europäisch geschulter Ethologe, der bisher bloss etwas von "sekundären Anpassungen", von "obligatorischem Lernen" und über ein paar wenige Einzelfälle von "fakultativem Lernen" bei Tieren vernommen hatte, in der Tat erschütternd. Im Laufe dieses zweisemestrigen Kurses befassten wir uns natürlich noch mit vielen anderen Aspekten des Lernens bei Tier und Mensch. Neue Begriffe wurden für mich zur Selbstverständlichkeit, wie "operante/instrumentelle Konditionierung", "Meideverhalten", "Fluchtverhalten", "Lernkurven", "primäre" und „sekundäre Bekräftigung", "positive" und „negative Bekräftigung", "Bestrafung", "Immerbekräftigung", "Bekräftigungspläne" ("Häufigkeitsbekräftigung" und „Intervallbekräftigung"), "Verhaltensketten", "Löschung", "Ermüdung", "Sättigung", "Vergessen", "abergläubisches Verhalten", "Generalisation", "Diskriminationslernen", "Abstraktion", "stufenweise Annäherung" und "differenzierte Bekräftigung" und vieles mehr. Ich wurde mit dem Phänomen konfrontiert, dass Tiere in ihrer Auseinandersetzung mit der Umgebung, und zwar mit den belebten wie unbelebten Objekten, wie auch mit sich selbst, fortwährend - positive und negative - Erfahrungen machen, die sich auf das nachfolgende Verhalten entsprechend auswirken. In einem zweiten Kurs ("physiological psychology"), erfuhr ich manches über die neurophysiologischen Grundlagen der Lernprozesse und der Funktionen des Nervensystems und im dritten Kurs ("comparative Physiology"), lernte ich u. a., dass es sich bei den Anpassungen des Verhaltens aufgrund gemachter Erfahrungen (resp. positiven oder negativen Einwirkungen), um ein in der Tierwelt universelles Phänomen handelt, das sich grundsätzlich von Einzellern bis zum Menschen feststellen lässt. Mir wurde klar, dass es sich beim „Lernen", also der Verhaltensänderung aufgrund von Erfahrung, nicht um einen Überzug, eine "Kuvertüre" über die „Torte" des "instinktiven", "angeborenen" Verhaltens handelt, sondern um einen ganz wesentlichen Teil des Verhaltens und Überlebens jedes einzelnen Individuums, wobei die Einflüsse des Erbgutes und die Einflüsse der Auseinandersetzung mit der Umgebung letztlich zu einem untrennbaren Verhaltensbild verschmelzen.
Es war mir in der Tat rätselhaft, wieso wir auf dem "alten Kontinent" über dieses spannende und boomende Gebiet bisher wenig bis nichts gehört hatten, ja wieso die Lernpsychologen in den USA, ihre Methoden, Erkenntnisse und Theorien von Ethologen in Europa, nicht zuletzt von den Gründervätern der klassischen Ethologie, despektierlich generell als "Behavioristen" und ihr Gebiet als "Behaviorismus" belächelt oder sogar offen abgelehnt und angefeindet wurden, trotz überwältigender, naturwissenschaftlich erarbeiteter Nachweise für die Richtigkeit der Theorie. Man befasste sich einfach in den Ethologenkreisen Europas nicht ernsthaft mit diesem Fachgebiet. Interessanterweise war dies auf der Gegenseite nicht der Fall: Bei einem seiner Besuche am Colorado College, hatte ich Gelegenheit, persönlich mit Burrhus Frederic Skinner, dem renommierten Behavioristen (und Erfinder der nach ihm benannten "Skinnerbox") zu sprechen. Er verneinte die Bedeutung phylogenetischer Verhaltensanpassungen und die genetische Basis des Verhaltens keineswegs, aber sah natürlich die erworbenen Komponenten des Verhaltens nicht als "Kuvertüre", sondern als aufgrund von Erfahrungen integrierte Bestandteile des von einem Individuum gezeigten Verhaltens.
Es war denn auch Verhaltensbiologen "jenseits des Atlantiks" vorbehalten, die beiden Fachgebiete der Verhaltensbiologie wirklich zu einer Synthese zu verbinden. 1966 publizierten Peter Marler und William J. Hamilton ihr Buch "Tierisches Verhalten" ("Mechanisms of Animal Behavior") und 1973 veröffentlichte Robert A. Hinde unter dem Titel "Das Verhalten der Tiere" ("Animal Behavior") seine "Synthese aus Ethologie und vergleichender Psychologie". Worum es in diesen Büchern im Wesentlichen geht sagen Marler und Hamilton im ersten Satz ihres Vorworts: "In diesem Buch geht es um die Prozesse, welche bestimmen, wann und wie ein gewisses Verhalten auftritt." Es ging also nicht mehr darum, irgendwelche Anteile der äusseren und inneren verhaltensbestimmenden Faktoren zu bestimmen und "angeborene" Anteile von "erworbenen" abzugrenzen, sondern zu zeigen, dass äussere und innere Faktoren immer gemeinsam in einer Wechselwirkung an der Entwicklung, der Ausgestaltung und dem Auftreten bestimmter Verhaltensweisen beteiligt sind. Es ging also nicht um entweder ("angeboren") oder ("erworben"), sondern um sowohl ("angeboren") als auch ("erworben"). Weil sich allerdings gewisse Verhaltensweisen und Verhaltensmuster im Verlaufe ihrer Entwicklung etwas resistenter gegen die Einwirkung von äusseren Faktoren erweisen, als andere, unterschied Hinde zwischen einerseits "umweltstabileren" und andererseits "umweltlabileren" Verhaltensmustern. Das ändert jedoch nichts daran, dass Verhalten nie nur genetisch bestimmt, noch nur erworben ist. Bereits ab der Befruchtung wirken im Ei oder im Mutterleib äussere Faktoren auf den sich entwickelnden Organismus und folglich auch auf sein Verhalten ein und dieses Wechselspiel zwischen dem Individuum und seiner Umgebung setzt sich nach dem Schlüpfen und der Geburt bei seiner Auseinandersetzung mit der belebten und unbelebten Umgebung fort (s. auch „Epi-Genetik“). Diese Erkenntnis ist auch heute noch keineswegs Allgemeingut. Es fällt offenbar auch heute noch vielen Menschen, die Umgang mit Tieren haben und/oder sich über die Grundlagen tierischen Verhaltens äussern, schwer, sich endlich von der falschen Dichotomie "hier angeboren und dort erworben" zu lösen.
Die Bücher von Marler/Hamilton und Hinde ackerten wir an der Ethologischen Station der Universität akribisch durch. Mir wurde Gelegenheit geboten, am Zoologischen Institut, an der med. vet. Fakultät und an Kongressen im In- und Ausland Vorlesungen und Referate zum Lernverhalten von Tieren zu halten und Artikel zu veröffentlichen und so einen kleinen Teil zu dieser wichtigen Synthese beizutragen. Was mich mit spezieller Freude und Genugtuung erfüllte, war, dass Klaus Foppa, der Autor des Buches „Lernen, Gedächtnis, Verhalten“ (Kiepenheuer und Witsch, 1965) als Professor an das Psychologische Institut der Universität Bern gewählt wurde und dort den Inhalt dieses Buches an seine Studierenden, darunter auch mich, vermittelte. Ich war, nach meinem Austauschjahr in den USA, von dieser naturwissenschaftlich orientierten Psychologie fasziniert und es hat damals effektiv wenig gefehlt und aus mir wäre statt ein Zoologe, ein Psychologe mit einem anderen Doktorvater und Arbeitsgebiet geworden.
Während wir heute in Wikipedia lesen können, dass das Abrichten von Pferden und das erfolgreiche Absolvieren einer "Hundeschule" vollständig auf den von Skinner systematisch erforschten Techniken der Verhaltensformung basiert oder an anderer Stelle, dass durch das sogenannte "Shaping" recht komplexe Handlungsweisen bei Tieren konditioniert werden können, - „wie sie etwa im Zirkus zu sehen sind“ -, war solches Gedankengut in den Sechziger- und Siebzigerjahren, wie bereits erwähnt, hier noch weitgehend fremd. Wer etwas von "Bekräftigung", und von "operanter Konditionierung" sprach, von "schrittweiser Annäherung" und "differenzierter Bekräftigung" oder von "primären" und "sekundären Bekräftigern", und wer versuchte, klar zu machen, wie wichtig das Verständnis der lernpsychologischen Grundlagen für die tiergerechte Ausbildung von Tieren ist, der wurde, insbesondere von vielen altgedienten Praktikern, rundweg nicht verstanden und/oder spöttisch belächelt. Mit der Zeit schwappte jedoch dieses Wissen von jenseits des Atlantiks, auch durch populärwissenschaftliche Bücher, allmählich auf unseren Kontinent über. Fortwährend, bis zum heutigen Tag, werden "neue" und "bahnbrechende" Methoden für die Ausbildung von Tieren, insbesondere Hunde, auf den Markt gebracht. Ein Guru nach dem anderen verkündet seine allein selig machende Weisheit zur Ausbildung von Tieren und die entsprechenden Schulen, Seminare und Kurse schiessen wie Pilze aus dem Boden. "Tier-" und "Hundepsychologen", "Verhaltenstherapeuten", "Hundeberater", "Tier-" und "Hundetrainer"und was da der - ungeschützten - Titel mehr sind, bieten - oft für respektable Geldbeträge - ihre Dienste an. Dabei können die wenigsten wirklich eine fundierte Ausbildung in Lernpsychologie und Verhaltensbiologie vorweisen. Es wäre ihnen sonst möglich, festzustellen, dass ihre "sensationellen Methoden" effektiv nichts Neues unter der Sonne sind, sondern bloss alter Wein in neuen Schläuchen, bzw. Dinge, welche seit 40 Jahren bekannt sind, wenn man sie nur hätte hören wollen.
Ich möchte, wie an anderer Stelle (s. „Kynologie“) bereits betont, die Verdienste ausgezeichneter Praktiker mit ihren guten Tierkenntnissen, die es immer gegeben hat, ausdrücklich von dieser Entwicklung ausnehmen; interessanterweise drängen sich gerade diese Menschen aber auch nicht in den Vordergrund.
3. Und nun zum Zirkus
Wie im Kapitel "Zoo" geschildert, hat mich nebst der Welt der wilden Tiere im natürlichen Lebensraum, auch die Welt der wilden (und domestizierten) Tiere in menschlicher Obhut von klein auf fasziniert. Dazu gehörte nicht nur der Zoo, sondern auch der Zirkus. Der jährliche Besuch der Vorstellung und der "Menagerie", wie sie damals noch hiess, des Zirkus Knie auf der Schützenmatte in Bern nach den Sommerschulferien gehörte ebenso zum Jahresablauf, wie der Besuch des Basler Zoos an meinem Geburtstag. Natürlich hatte ich Spass an den Clowns und bestaunte die Artisten, aber voll in ihren Bann zogen mich seit jeher die Tiernummern. Nun muss man wissen, dass Fredy Knie sen. im Jahre 1938 beschlossen hatte, dem Publikum auch zu den sogenannten "Tierproben" sein Zirkuszelt zu öffnen. Es kann also seither jedermann allmorgendlich Zeuge davon sein, wie im Zirkus Knie die Tiernummern fürs nächste Jahr aufgebaut werden und ganz allgenmein, wie man im Zirkus Knie mit den vierbeinigen Artisten umgeht. Als Gründe für diesen in der Zirkuswelt revolutionären Schritt, gab Fredy Knie sen. jeweils die folgenden an: "Ich wollte dem Publikum zeigen, dass wir keine Geheimnisse haben und nichts verbergen müssen und zudem wollte ich, als junger Tierlehrer, diese Überwachung durch das Publikum, weil es mir half mich jederzeit in Kontrolle zu halten und meinen Tiere ruhig, gefasst und korrekt gegenüberzutreten" (s.u.). Damit erfolgt die Ausbildung von und der Umgang mit Tieren beim Zirkus Knie seit annähernd 80 (!) Jahren in aller Öffentlichkeit. In der gleichen Zeitspanne haben hunderte, ja tausende von Privatpersonen und -gruppierungen ihre Tiere (z.B. Pferde oder Hunde) unter Ausschluss der Öffentlichkeit, ausgebildet, trainiert und z. T. eingesetzt ohne dass jemand sie bei ihrer Arbeit beobachten konnte. Ich will all diesen Personen und Gruppierungen unter keinen Umständen unterstellen, dass ihr Umgang mit den Tieren generell weniger tiergerecht ist, aber dass es immer wieder Einzelpersonen und gewisse Kreise gibt, welche sich bemüssigt fühlen, ausgerechnet an der Ausbildung von Tieren im Zirkus Knie (oder generell im Zirkus) herumzunörgeln, während sie das ganze übrige Spektrum der vielen anderen "Tiertrainer" und "Ausbildner", die "im Verborgenen arbeiten", ausblenden, mutet doch reichlich absurd an.
Schon zu meiner Schulzeit sass ich also als regelmässiger Besucher dieser "Tierschule" am Morgen im Zirkuszelt, beobachtete den Tierlehrer und seine Schüler begann etwas über die Wirkung der Aktionen des Tierlehrers und die Bedeutung der Interaktionen zwischen Mensch und Tier zu erahnen, aber es gelang mir nicht, das Geheimnis, wie es letztlich, dazu kam, dass das Tier das für die neue Nummer erwünschte Verhalten erlernte, zu lüften.
Nachdem ich mich in den USA jedoch längere Zeit mit Lernpsychologie befasst und es mir dort selbst gelungen war, das Verhalten von Ratten, Tauben und einer Giraffe zu formen bzw. in gewünschte Bahnen zu lenken und nachdem ich selbst bei der Ausbildung, dem Training und dem Einsatz von Schlittenhunden weitere praktische Erfahrung gesammelt hatte, packte mich erneut die Neugier und ich kehrte als aufmerksamer Beobachter in die Tierproben des Zirkus Knie zurück. Und was ich nun dort sah, war für mich wirklich beeindruckend. Da arbeiteten Tierlehrer nach allen Regeln der Kunst, bzw. der Wissenschaft mit ihren vierbeinigen Schülern, die wohl nie einen Kurs in Lernpsychologie besucht hatten, aber ihr Wissen und Können einer Jahrzehnte langen von Generation zu Generation weitergegebenen Erfahrung, einer ausgezeichneten Tierkenntnis, lebhaftem Interesse an und tiefer Liebe zu ihren Tieren verdankten. Was ich sah, war die fast lupenreine Umsetzung der Prinzipien der Lernpsychologie, respektive die Anwendung biologischer Lernprozesse. Ein Beispiel also für wahrhaft "tiergerechte Ausbildung".
Ich begann, im Rahmen meines wissenschaftlichen Interesses generell an der Mensch-Tier-Beziehung, nun systematisch und über längere Zeit den Aufbau ganzer Tiernummern zu beobachten und zu dokumentieren, was dazu führte, dass ich letztlich die Vorführungen dieser Nummern im Programm mit völlig anderen Augen betrachtete und diesem Wechselspiel von Aktionen und Reaktionen, dieser Kommunikation zwischen Tier und Mensch jeweils - und bis heute - voller Spannung folgte. Meine neugierigen Fragen beantworteten die Tierlehrer mit freundlicher Aufmerksamkeit, entgegenkommender Geduld und fachlicher Offenheit. Bald einmal - so nehme ich an - wurde ich "ernst genommen" und wir sprachen dann nicht nur über Gott und die Welt, sondern führten auch ausführliche Fachgespräche über die Ausbildung von Tieren. Das ist auch heute noch so.
4. Ich kommentiere die Tierproben unter dem Titel "Tiere gehen zur Schule"
Im Jahre 1976, zeigte der Zirkus Knie in seinem Programm einen sogenannten "seillaufenden Elefanten". Dieser Elefant, ein jüngeres Tier, lief tatsächlich von Podest zu Podest, quer durch die Manege über zwei dicke, straff gespannte Drahtseile. In einer Tageszeitung wurde nun einer der notorisch bekannten Leserbriefe veröffentlicht, in dem eine Frau ihr Missfallen darüber äusserte, dass "dieses arme Tier gezwungen werde, voller Angst über diese Seile zu laufen". Sie erlag, wie viele Leute bis zum heutigen Tag, die sich nicht um die Vorgeschichte von Tiernummern kümmern - oder vielleicht sogar aufgrund eigenen falschen Umgangs mit einem Heimtier - dem Irrtum, man könne so ein Verhalten ruck zuck in ein paar Tagen erzwingen. Ich schrieb dann in einem anderen, als Replik veröffentlichten Leserbrief, dass der Elefant dieses Verhalten ausführe, nachdem er, in korrekter Anwendung der Prinzipien der schrittweisen Annäherung, der differenzierten Bekräftigung und über positive Bekräftigung, in jahrelanger Kleinarbeit und sorgfältig an dieses Element der Nummer herangeführt worden war. Fast zwei Jahre vorher hatte er gelernt über zwei am Boden liegende, relativ kurze Bretter zu laufen, dann über zwei breite Balken, dann über wenige Zentimeter über dem Boden fest installierte Balken, dann - bereits von Podest zu Podest - über zunehmend höher installierte Balken, dann über in niederer Höhe fest installierte, straff gespannte Drahtseile, deren Höhe auch allmählich gesteigert wurde, bis das Tier über kurze Distanz von einem zum anderen Podest über die Seile lief und nun erst wurde allmählich und Dezimeter um Dezimeter die Distanz zwischen den Podesten vergrössert. Der Elefant wurde so ohne Stress, ohne Druck, ohne Überforderung und ohne Misserfolg Schritt für Schritt an diese Leistung herangeführt, gleichermassen von Erfolg zu Erfolg vorwärtsschreitend. Er fühlte sich jederzeit sicher und zeigte keine Anzeichen von "Angst", also Meide-, Schutz- oder gar Fluchtverhalten. Weil ein solches Vorgehen noch längst nicht bei allen Haltern von beispielsweise Hunden oder Pferden befolgt wird, ist es nicht erstaunlich, dass sie dann ihre eigenen schlechten Erfahrungen auf das was sie im Zirkus sehen, projizieren und so zu falschen Schlüssen gelangen.
Man verstehe mich recht. Ich wollte damit nicht ein Plädoyer dafür schreiben, dass dieses Seillaufen bei jedem Elefanten nun zur Grundausbildung gehören sollte. Ich wollte mich bloss gegen die krasse Fehleinschätzung dessen, was dieses Verhalten für das Tier bedeutete, zur Wehr setzen. Es ist sowieso seltsam, wie manche Menschen, die nie mit einem Elefanten, einem Löwen, Tiger, Seelöwen oder anderen, eher exotischen Tieren wirklich zusammengearbeitet haben, glauben zu wissen, dass diese Tiere - insbesondere wenn sie in einer Tiernummer im Zirkus (oder im Zoo) mitmachen - nur Negatives empfinden und fühlen. Bei Hunden und - in schon weit beschränkterem Masse - bei Pferden ist das viel weniger der Fall, offenbar, weil wir aufgrund unserer Erfahrung eher im Stande sind, diese Tiere, bzw. ihr Ausdrucksverhalten besser lesen und interpretieren zu können und sie deshalb auch besser zu verstehen. Wenn solche Tiere im Zirkus vorgeführt werden, erkennen wir eher, dass sie „entspannt" und "gelöst", "aufmerksam" und "interessiert" sind oder wir erkennen sogar Verhaltenselemente, die wir als "Ausdruck spielerischer Freude" interpretieren (z.B. "Spielgesicht" oder Schwanzwedeln bei Hunden). Es ist offenbar für manche Menschen nicht vorstellbar, dass das, was für Hunde oder Pferde gilt, nicht auch für Elefanten, Löwen, Tiger, Giraffen, Nashörnern oder Seelöwen Geltung hat. Es besteht jedoch kein Grund, warum dies nicht so sein sollte. Wer mit Hunden arbeitet, macht die Erfahrung, dass sie willig, bereitwillig, konzentriert und eifrig mitmachen, wenn ihnen Aufgaben gestellt und sie gefordert werden, ja dass sie - vorausgesetzt ihre Ausbildung war tiergerecht - oft geradezu gegen den Übungsplatz drängen und Verhaltensweisen, die wir als "Ungeduld" interpretieren, zeigen. Dieselbe "Appetenz nach der Dressur oder Vorführungssituation" kann durchaus auch bei gut ausgebildeten Tieren - Wild- und Haustieren - im Zirkus beobachtet werden.
Nun aber zurück zu meinem Leserbrief. Der wurde offenbar auch vom damaligen Presseverantwortlichen des Zirkus Knie, Chris Krenger, gelesen, worauf er mich kontaktierte. Mir wurde mitgeteilt, dass sich der Zirkus Knie im Jahre 1978 zusammen mit dem WWF an einer sogenannten "Operation Elefant" beteiligen würde und dass in diesem Zusammenhang jemand gesucht wurde, der die Tierproben, insbesondere das Training der Elefanten, für die Zirkusbesucher kommentieren würde. Zwar war ursprünglich der bekannte Elefantenfachmann Fred Kurt dafür vorgesehen, aber er war teilweise verhindert und sah sich zudem auch ausserstande diese Kommentare in der Romandie in französischer Sprache abzugeben. Ich sprang deshalb für ihn ein und von da an, also 38 Jahre lang, kommentierte ich - anfänglich zusammen mit Fredy Knie sen. - mehrmals pro Saison in Zürich, Basel, Bern, Genf und Lausanne die öffentlichen, sonntäglichen Tierproben (mit Pferden, Kamelen, Lamas, Löwen, Tigern, Seelöwen, Papageien, Zebras, Elefanten usw.) und erklärte den Besuchern, was sich in der Manege abspielt. Dabei machte ich folgende Erfahrungen: Diese Veranstaltung "Tiere gehen zur Schule" stiess auf grosses Interesse und wurde in der Regel von bis zu ca. 500 Personen besucht. Nicht nur Erwachsene sondern besonders auch Kinder folgten dem Geschehen und den Erklärungen gebannt und aufmerksam. Viele Besucher teilten mir nach der Veranstaltung mit, dass sie nun nicht nur viel besser über die Ausbildung von Tieren im Zirkus Knie, ja über die Ausbildung von Tieren generell Bescheid wüssten, sondern dass sie auch viel für den Umgang mit dem eigenen Tier (Hund oder Pferd) gelernt hätten. Damit standen diese Veranstaltungen auch im Interesse des Tierschutzes, hoffte ich doch, damit den Besuchern die Grundsätze einer tiergerechten Ausbildung zu vermitteln. Im Frühjahr 2016 entschloss sich die Direktion des Zirkus Knie, die Veranstaltung "Tiere gehen zur Schule" von nun an in Eigenregie durchzuführen, also die Ausbildungsarbeit selbst öffentlich zu kommentieren. Damit ging für mich eine fast 40-jährige enge Zusammenarbeit zu Ende.
Die Veranstaltung "Tiere gehen zur Schule", das sei hier betont, machte ich zusammen mit den Tierlehrern der Familie Knie. Ich hätte das wohl nicht mit allen Tierlehrern, "Dresseuren" und "Dompteuren" machen können, die es innerhalb und ausserhalb der Zirkuswelt gibt, und auch längst nicht in jedem Zirkus. Damit sei gesagt, dass es auch heute noch neben äusserst fähigen, guten Tierlehrern (z. B. auch den Raubtierspezialisten Jürg Jenny (am 4. März 2017 verstorben) oder René Strickler) auch unfähige und schlechte Tierlehrer im Zirkus gibt und gleichermassen Zirkusse mit unakzeptabler Haltung und/oder Ausbildungsmethoden. Es gibt, also gute und schlechte Tierlehrer, gute und schlechte Zirkusse (wie auch gute und schlechte Zoos und gute und schlechte Hunde-oder Pferdehalter) und Ziel sollte es sein, im Interesse der Tiere, schlechte Tierlehrer und Zirkusse zum Verschwinden zu bringen. Nicht aber generell die Haltung, Ausbildung und Vorführung von Wild- und Haustieren im guten Zirkus ! Für alle Tiere - und zwar domestizierte, wie Wildtiere in menschlicher Obhut - besteht durchaus die Gefahr der Beschäftigungslosigkeit mit ihren bedenklichen Konsequenzen und damit ein Bedarf nach Anregung und Anforderung. Die Qualität von Haltungsbedingungen ist folglich nicht nur über die Raumquantität (Gehegedimensionen) und die Raumqualität (die Gehegestrukturen, die "Inneneinrichtung") zu bestimmen, sondern auch über die Möglichkeiten zur Beschäftigung. Es muss Tieren in menschlicher Obhut ein gewisses Mass an Abwechslung und Anregung geboten und es müssen Anforderungen an sie gestellt werden. Dazu wurden und werden, auch in guten geführten Zoos (s. Kapitel „Zoo“), verschiedene Möglichkeiten verwirklicht (s."Behavioral enrichment"), einschliesslich die Ausbildung und Vorführung der ausgebildeten Tiere. Im Zirkus steht dieses Element im Zentrum. Ausbildung und Vorführung von Tieren können also - vorausgesetzt die Ausbildungsmethodik ist tiergerecht - im Interesse der Tiere stehen, vermögen ihr Dasein zu bereichern, vermögen sie physisch und psychisch zu fordern und tragen zu ihrer körperlichen und mentalen Fitness bei. Zudem ermöglicht die enge Beziehung zwischen dem Tierlehrer und seinen vierbeinigen Schülern Einblicke in ihre Persönlichkeit, ihr Denken und Handeln, die auf keinem anderen Weg möglich wären. Prof. Hediger hat, wie auch andere Tierpsychologen und Ethologen, die der Ausbildung von Tieren im Zirkus offen begegnet sind, immer wieder auf die Wichtigkeit dieses Aspekts hingewiesen. Wie mein Studienkollege Daniel Schwizgebel in seiner tierschutzrelevanten und bahnbrechenden Diplomarbeit ("Zusammenhänge zwischen dem Verhalten des Tierlehrers und dem Verhalten des Deutschen Schäferhunden in verschiedenen Dressurdisziplinen") im Jahre 1982 gezeigt hat, lassen sich aus einer Reihe von Verhaltensindikatoren, welche beim Tier in der Vorführ-, oder Prüfungssituation gezeigt werden, Schlüsse darauf ziehen, ob die Ausbildung tiergerecht erfolgt ist oder nicht. Diese Verhaltensindikatoren muss man kennen und interpretieren können, bevor man die Ausbildung von Tieren im Zirkus, im Zoo oder privat generell ablehnt. Mit letzterem, es wurde bereits gesagt, erweist man den Tieren in menschlicher Obhut wohl in den meisten Fällen einen schlechten Dienst. Jeder gute Hundebesitzer weiss, mit welcher Begeisterung, Hingabe und Konzentration sein vierbeiniger Freund zusammen mit ihm Aufgaben löst, aktiv ist und interagiert. Das ist bei einem Tierlehrer im Zirkus und seinen vierbeinigen Schülern nicht anders.
Dass es neben der biologischen Komponente bei der Ausbildung und Vorführung von Tieren im Zirkus heute ebenfalls eine ethische Komponente zu beachten gilt, ist guten Tierlehrern völlig klar. Elefanten schreiten heute nicht mehr - als Charly Chaplin verkleidet - auf den Hinterbeinen durch die Manege, Schimpansen treten nicht mehr in gestreiften Matrosenanzügen im Programm auf und Bären fahren nicht mehr Motorrad. Dagegen will der gute Tierlehrer heute Tiere möglichst natürlich, also ohne irgendwelche "Kostümierung" vorführen. Er will das Bewundernswerte, das Spezielle ihrer Gestalt und ihres natürlichen Verhaltens sichtbar werden lassen, ihre Harmonie, Eleganz, Geschmeidigkeit, Kraft und Geschicklichkeit.
Meine Beobachtungen, Erkenntnisse und Erfahrungen in Bezug auf die Ausbildung von Tieren im Zirkus publizierte ich unter anderem in "UNI PRESS", dem Magazin der Universität Bern. In Zusammenarbeit zwischen der Pressestelle der Universität Bern und dem Zirkus Knie wurde dann der Inhalt dieser Uni-Press Ausgabe 1985 vollständig in den damaligen Zooführer des Zirkus Knie übernommen. Als weitere Mitarbeiter dieser Broschüre zeichneten Prof. Hannes Sägesser, der damalige Direktor des Tierparks Bern und Dr. Peter Dollinger, der damalige Chef der Sektion Artenschutz beim Bundesamt für Veterinärwesen verantwortlich. Wenige Jahre später (1992) durfte ich wiederum den Text für eine völlig überarbeitete Ausgabe dieses Zooführers verfassen. Ich hielt (und halte auch weiterhin) Vorträge allgemein zur Ausbildung von Tieren und/oder speziell zur Ausbildung von Tieren im Zirkus im In- und Ausland (u.a. 1984 am Collegium Generale "Mensch und Tier" der Universität Bern, zum Thema "Die Dressur von Tieren", 1986 am Kongress zur Mensch-Tier Beziehung in Boston [USA] zum Thema "Code of Ethics for Circus Animal Training" und 1992 an der 24. Internationalen Arbeitstagung der Deutschen Veterinärmedizinischen Gesellschaft e.V., Fachgruppe Verhaltensforschung in Freiburg i. Br. zum Thema "Natürliches Verhalten in der Zirkusmanege"). Mehrere Jahre beteiligte ich mich auch an den Ausbildungsveranstaltungen der Deutschen Veterinärmedizinischen Gesellschaft e.V., Fachgruppe Verhaltensforschung zum Thema Ausbildung und Haltung von Tieren im Zirkus, welche von Prof. Klaus Zeeb organisiert wurden.
5. Noch ein paar Bemerkungen zur Haltung von Tieren im Zirkus
Als der Zirkus Knie vor ein paar Jahrzehnten noch auf der Schützenmatte in Bern gastierte, entsprach die Haltung der Tiere im mobilen Zirkuszoo in der Tat noch eher einer Menagerie. Man konnte da Gorillas (!), Kattas, Rhesusaffen, Rotgesichtsmakaken, Nasenbären, Stachelschweine, Kängurus, ein Breitmaulnashorn, ein Flusspferd, eine Giraffe, Zebras, Elefanten, Löwen, Tiger, Leoparden, Hyänenhunde, Emus, diverse Papageienarten sowie zahlreiche Haustierarten und - rassen sehen, und, je nach Programm kamen bisweilen auch noch Eisbären, Braunbären, Seelöwen, Pumas, ein Schneeleopard, ein Zwergflusspferd und andere hinzu. Die Tiere lebten früher kaum in Gehegen, sondern meistens in ihren Käfigwagen; Pferde und Elefanten waren angebunden. Für alle Zirkusse in der Schweiz änderte sich die Situation, als die Tierschutzgesetzgebung im Jahre 1981 in Kraft trat. Für Tiere im Zirkus, die nicht regelmässig ausgebildet, trainiert und vorgeführt wurden, galten von nun an dieselben Bestimmungen - insbesondere auch in Bezug auf die Gehegedimensionen - wie für ihre Artgenossen im Zoo, was die Zirkusse in vielen Fällen veranlasste, sich von diesen Tieren zu trennen und sich vor allem auf diejenigen zu konzentrieren, welche ausgebildet wurden und/oder in der Vorführung auftraten. Es wäre aber falsch, wenn man all die Veränderungen der Tierhaltung in unseren Zirkussen in den letzten rund 30 Jahren allein der Auswirkung der veränderten Gesetzgebung zuschreiben würde. Dies war wohl bloss der Anstoss. Denn von nun an entwickelten die Zirkusse und Tierlehrer in der Schweiz reihenweise neuartige Installationen und Methoden der Haltung von Wild- und Haustieren im mobilen Zirkuszoo: Elefanten wurden kaum mehr angebunden gehalten, sondern es stand ihnen – Tag und Nacht - ein relativ weitläufiges, von einem Elektrodraht eingezäuntes Gehege und ein geräumiges Stallzelt zur Verfügung. Auch bei den Pferden und Ponies gab es keine Anbindehaltung mehr, sondern sie leben nun - im Zirkus Knie - in Boxen mit Auslauf und werden abwechslungsweise auf eingezäunte Weideflächen verbracht. Zebras, Guanakos, Kamele und Lamas verfügten ebenfalls über grössere Gehege, ebenso wie Tiger und Löwen, sofern diese Tierarten überhaupt noch alle auf Tournee mitgeführt werden (s. dazu die Medienmitteilung “Veränderung in Knies Elefantenwelt“). Das Motto, das sich der Berner Tierpark Dählhölzli zu eigen gemacht hat, nämlich "Mehr Platz für weniger Tiere" galt und gilt also sinngemäss auch für unsere Zirkusunternehmen, wobei der Zirkus Knie hier in der Regel - weltweit - eine Vorreiterrolle ausübt und die anderen nachziehen. Dies gilt im Besonderen auch in Bezug auf die festen Einrichtungen im Winterquartier.
Nun, selbst wenn die Gehege der Tiere im Zirkuszoo heute in vielen Fällen durchaus den Anforderungen entsprechen, die für Tiere im stationären Zoo gelten, gibt es immer wieder Personen, welche die Haltung von Tieren, speziell Wildtieren, im Zirkus kritisieren. Es nützt dabei wenig auf wissenschaftliche Untersuchungen hinzuweisen, welche aufzeigen, dass Tiere auch im Zirkus durchaus tiergerecht und tierschutzkonform gehalten werden. Bei diesen Anfeindungen der Haltung, Ausbildung und Vorführung von Tieren im Zirkus handelt es sich häufig um Vorurteile, die „aus dem Bauch heraus”, emotionell aufgrund einer besonderen Weltanschauung (also einer Meinung) und nicht durch sachliche Überlegungen, wissenschaftlich fundierten Fakten oder gar fachkundige Tierkenntnisse beeinflusst werden. Es sieht einfach anders aus, wenn Löwen auf Sandboden oder Felsen unter schattenspendenden Bäumen liegen und kein Gitter den Blick auf sie stört oder wenn sie von Felsbrocken zu Felsbrocken springen, als wenn ihr Gehege durch eine Umzäunung begrenzt ist, der Untergrund Asphalt ist (auf den man zwar Sand oder Holzschnitzel gestreut hat) und als Liegeflächen Holzplattformen aus Baumstämmen, als Rückzugsorte Käfigwagen und als Schattenspender Zeltplanen oder Schilfmatten vorhanden sind und sie von Podest zu Podest springen. Die Frage muss doch sein: Ist dies für die Tiere von Bedeutung? Oder anders: Ermöglichen ihnen die Raumdimensionen und die "Möblierung" die Deckung ihres Bedarfs nach verschiedenen Ressourcen und Bedingungen (s. dazu das Kapitel "Tierschutz")? Auch dies lässt sich - entsprechend der Evaluation der Ausbildungsmethode - letztlich über die Evaluation von körperlichen, physiologischen und Verhaltensindikatoren bestimmen.
In der nachfolgenden Bildergalerie möchte ich an einigen Beispielen zeigen, dass eine tiergerechte und tierschutzkonforme Haltung von Wildtieren - rein gesehen von den Gehegedimensionen und der "Gehegemöblierung" aus betrachtet - auch im Zirkus möglich ist. In den meisten Fällen entsprechen übrigens die Gehegedimensionen den gesetzlichen Anforderungen für stationäre Wildtierhaltungen (z. B. Zoos).
Die Galerie befindet sich im Aufbau.
Nicht nur die Tiere im Zoo, auch die Tiere, die heute in Zirkussen gehalten werden, sind in den meisten Fällen in menschlicher Obhut und damit in "kontrollierter Umgebung" geboren worden und aufgewachsen (und kämen, wie die meisten Zootiere, in natürlichen Lebensraum nicht mehr zurecht). Seit Geburt gehört der Mensch zu den vertrauten Elementen in ihrer Umgebung. Wie die Tiere im Zoo gilt auch für die Tiere im Zirkus, dass für die Beurteilung der Qualität der Haltebedingungen die Dimensionen der Gehege, die Einrichtung der Gehege und der Faktor Beschäftigung bzw. Verhaltensanreicherung ("behavioral enrichment") in die Waagschale geworfen werden müssen. Und was nun Letzteres anbelangt, so ist die Haltung der Tiere im Zirkus der Zoohaltung in der Regel weit überlegen: Sowohl die Dimensionen ihres Geheges, wie dessen Ausrichtung (andere "Aussicht", andere Sonneneinstrahlung, andere Nachbarn) und Unterlage wechseln von Spielort zu Spielort und bieten immer wieder die Gelegenheit, Neues zu erkunden. Die Inneneinrichtung verändert sich (z.B. allein durch Zugabe von Zweigen) sogar von Tag zu Tag und kann von den Gehegeinsassen manipuliert werden. Es besteht eine enge Beziehung zum Tierpfleger und Tierlehrer, Die Betreuung und Pflege und damit die Intensität der Interaktionen zwischen dem Tier und seinem Pfleger ist sehr gross. Es baut sich eine enge Beziehung zwischen dem Tier und den Menschen in seiner Umgebung auf. Während der Saison sind die Zirkustiere nie in festen Betonbauten, sondern draussen und grundsätzlich jedem Wetter ausgesetzt (Stallzelte oder - wagen bieten Schutz vor Wind, Regen und Sonneneinstrahlung). Die Tiere werden veranlasst ihre Nahrung zu suchen oder "mundgerecht" zu bearbeiten. Den Tieren werden geeignetes Material oder geeignete Objekte zu Spiel und/oder anderweitiger Beschäftigung dargereicht. Man hält nicht nur Tiere im Sozialverband zusammen, sondern, falls möglich, auch Gemeinschaften von mehreren Tierarten. Tiere werden ausgeführt (spazieren, reiten), Tiere werden wechselweise in grössere Paddocks oder Weiden verbracht, Tiere werden zu Laufaktivität animiert und letztlich werden Tiere im Zirkus auf der Basis biologischer Lernprozesse ausgebildet und im Programm vorgeführt, also physisch und psychisch gefordert und gefördert. Wäre es, in Anbetracht all dessen, nicht denkbar, dass das Tier, könnte es zwischen einem Leben in einem gut geführten Zirkus oder in einem ebenso gut geführten Zoo wählen, sich vielleicht für den Zirkus entscheiden würde?
Siehe dazu auch:
Wild Animals in Travelling Circuses – The Report of the Chairman of the Circus Working Group”